Initiative statt Innovation: Unsere (asiatische) Zukunft beginnt mit einem ersten Schritt
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Ein Kommentar
2009 sprach ich, im Rahmen meines Auftrags für die Ausstellung Weltwissen Berliner Wissenschaftsprojekte zu porträtieren, mit der Wissenschaftlerin Dr. Yukiyo Kasai, die verloren gegangene Sprache entlang der Seidenstrasse erforschte. Dafür las sie sich durch Handschriften von unterschiedlichen Völkern aus dem 2. bis 14. Jahrhundert in mehr als 20 Sprachen und Schriften, darunter Chinesisch, Mittelpersisch, Uigurisch, Alt-Türkisch, Sogdisch, Mongolisch und Syrisch. Die meisten Texte haben einen religiösen Inhalt und dokumentieren die Verbreitung und Entwicklung des Buddhismus, des Manichäismus (antike Religion) und des Christentums entlang der Seidenstraße. Es finden sich allerdings auch Verträge, Wirtschaftstexte oder Heiratsurkunden. Das Spannende an den Texten ist, dass man mit ihnen die Besiedlung an den Seidenstraßen verfolgen kann, wie Völker und Sprachen sich ausgebreitet und durchmischt haben, und wie religiöse Ideen gewandert sind. Fundstätten sind die Zellen der damaligen Mönche, die diese in das relativ weiche Gestein eingegraben hatten, um dort Texte abzuschreiben und als Textrollen und Bündel aufzubewahren. Durch das sehr trockene Klima sind die Handschriften gut erhalten geblieben.
Geheimnisse lüften, Drohszenarien entkräften?
„Wir Japaner lernen in der Schule im Geschichtsunterricht sehr viel über die Weltgeschichte, über Europa, Indien, China, Persien. Aber für mich blieb es immer ein großes Geheimnis, dass diese Völker plötzlich auftauchen und dann wieder verschwinden. Dieses Geheimnis wollte ich an der Universität lüften“, verriet mir Dr. Kasai damals zu ihrer Motivation, sich diesen uralten Schriften und längst vergessenen Völkern zu widmen. „Wir haben nur das Bild einer eindrucksvollen Wüstenlandschaft mit einigen Oasen und Kamelkarawanen im Kopf. Das Spannende an den Texten ist, dass man mit ihnen die Besiedlung an den Seidenstraßen verfolgen kann, wie Völker und Sprachen sich ausgebreitet und durchmischt haben, und wie religiöse Ideen gewandert sind.“
Silk_Road_in_the_I_century_AD_-_ru.svg: Kaidor
Heute ist die Wiederbelebung der einstigen, und im europäischen Gebiet eigentlich ausschließlich als Handelsstrasse bekannten, Seidenstrasse durch China einer der Gründe für die europäische Wirtschaft und Politik, sich mit Asien und China auseinanderzusetzen. Dabei ist mehr von Drohkulissen als Chance die Sprache. „Das Mega-Infrastrukturprojekt „Neue Seidenstraße“ weckt Erwartungen, aber auch Ängste. Diktiert China künftig die Parameter der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Europa?“ untertitelte die Capital entsprechend Anfang Oktober ihren Artikel dazu. Die Sznenarien reichen von Überlandverbindungen zwischen China und Duisburg und Kontinente verbindenden Zukunftsvisionen bis zu globalen Handelskriege. Es geht um Macht, um Systeme und nicht zuletzt um Zugänge zu Resilienz und Perspektiven.
Initiative statt Innovation, System statt Design Thinking
„Das 19. war das europäische, das 20. das amerikanische Jahrhundert – und das 21. wird das asiatische Jahrhundert sein.“
Weit über dasProjekt „Neue Seidenstrasse“ hinausreichend formuliert und propagiert Parag Khanna diese seine Kernthese und hat dazu ein aktuelles Buch vorgelegt: The Future is Asian / Unsere Asiatische Zukunft. Anschaulich er darin seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen:
1. Asien heißt heute: viereinhalb Milliarden Menschen, zwei Drittel der Megacitys unseres Planeten, zwei Drittel des weltweiten Wirtschaftswachstums, Tendenz weiter steigend.
2. Unsere Welt verändert sich durch die Verschiebung der globalen Machtverhältnisse und wird, wo es nicht schon so weit ist, bald alle Bereiche unseres Lebens beeinflussen.
3. Wir haben weder Vorstellung davon, was das konkret für uns bedeutet, noch kennen wir überhaupt diesen riesigen, vielfältigen Kontinent, der nicht nur aus China und Japan besteht. Für Khanna gehören übrigens auch der Nahe Osten und teile Russlands dazu. Und nicht zuletzt gehen laut Khanna wesentliche Impulse von den technologisch längst führenden Ländern Südostasiens, etwa Indonesien oder Singapur, aus.
4. Deutschland und Europa müssen nicht nur wirtschaftlich ihre Chancen erkennen und nutzen. Auf mittelfristige und erst recht langfristige Sicht geht es um eine kulturelle und politische Synthese von West und Ost: von Liberalismus und Holismus, Demokratie und Technokratie.
Dazu reicht es nicht aus, kleinteilig Innovationsprojekte voranzutreiben und eine Zukunft zu beschwören, die zwar mehr als die Summe unserer Gegenwart aber immer noch schlüssig aus Erfahrenem hervorgeht, die sich berechnen, ja designen lässt. Es verlangt nach Auseinandersetzung mit der eigenen aber auch mit fremden Kulturen, denn es gilt Systeme zu erkennen und anzuerkennen, auch wenn das mühsam ist und Kategorien herausfordert. Nicht umsonst spricht der Soziologe Dirk Bäcker von Überforderung als dem bezeichnenden Indikator für gesellschaftliche Umbrüche wie wir sie aktuell erfahren und zwar sowohl gesellschaftlich als auch politisch, wirtschaftlich und kulturell. Wir, wer immer das ist, sind nicht reif, für was immer kommt. Reifung erfordert Initiative, und zwar unsere.
A future created by us is less frightening than a future happening to us
Zur Initiative ruft auch Khanna auf, so wie ich ihn verstanden habe. Zu einem ersten Schritt, der viele nach sich ziehen wird, die in der Folge einen Weg bilden könnten, der das System Asien umarmt und in der Umarmung eine Zukunft möglich macht. Dabei Chancen statt Bedrohungen in den Fokus zu nehmen, ist seine Empfehlung und ich vermute, die beruht nicht auf einem allgemeingültigen Optimismus, sondern aus seiner Einschätzung der Lage, die er, wie nur wenige von uns aus einer globalen Perspektive beurteilt.
Wie sagte mein Gesprächspartner letzthin, seines Zeichens Oberstleutnant beim Generalstab der Bundeswehr, auf meine Frage was in seiner Organisation als Krise gelte: „Wir haben keine Krisen, wir haben Lageänderungen.“ Dass die Lage sich dieser Tage täglich ändert, ist ohne Zweifel. Dass wir unsere Perspektiven anpassen, wohl unausweichlich. Dass wir die Initiative ergreifen, unsere Möglichkeit, die Lage neu zu gestalten.
Mehr dazu: Ceci n’Est pas une crise