Brands looking for Places

29. Oktober 2016
Bild © 2016 Tiger Beer

Während der klassische stationäre Handel um seine Kunden kämpft, Modehäuser schließen und neue Einkaufszentren erst gar nicht mehr richtig Fahrt aufnehmen und Galeria Kaufhof und KaDeWe gefühlt ewig an ihrem Relaunch basteln, eröffnen digitale Marken wie Amazon Ladengeschäfte, verlängert Hess Natur seinen ursprünglich als Pop Up Store konzipierten Flagship Store am Kudamm in Berlin und Vogue (Condé Nast) eröffnet neue Cafés in London, Berlin und Porto. In Berlin-Mitte kuscheln die Flagship Stores unterschiedlichster Couleur miteinander: Von Ritter Sports Bunter Schokowelt über den Klassiker Legoland und das Nivea-Haus bis zur Digital Eatery von Microsoft; Keine Metropole, die etwas auf sich hält, kommt heutzutage ohne Apple Store aus.

Was aber macht es für Marken so wichtig, wieder vor Ort Geschäfte zu eröffnen, in den direkten Kundenkontakt zu gehen und Resonanzräume wieder offline zu eröffnen? 

Was sind die Gründe, dass (digitale) Marken wieder Sehnsucht verspüren nach einem realen Ort für ihre Produkte, nach Kundenkontakt und warum gehen diese Konzepte in den meisten Fällen auf? Was bieten diese suchenden Unternehmen ihren Kunden an diesen neu geschaffenen Orten, das über den reinen Warenverkauf samt Beratung hinaus geht? Was sind die Kriterien für diese Orte? In der Kurzfassung: Sie wissen zu inszenieren, sie schaffen ein emotionales Erlebnis und sie nehmen wenig als selbstverständlich. Diese und weitere Gründe im Detail:

  1. Außergewöhnlich & Temporär
    Pop Up Projekte zeichnen sich durch eine zeitliche Beschränkung aus und auch die längerfristig konzipierten Projekte sind eher fluide denn starr konzipiert. Ergebnisoffen. Damit sind sie qua der zeitlichen Beschränkung exklusiv und per se reizvoll. Die Außergewöhnlichkeit zieht doppelt, wenn eine digitale Marke wie Amazon ein Ladengeschäft eröffnet. Damit wären wir bei Punkt zwei:
  2. PR & Social Media:
    Digital heißt Kommunikation: Die Digital Natives unter den Marken wissen um die Bedeutung der Kommunikation vor, während und nach dem Ladengeschäft. Für Marketing und Kommunikation stehen entsprechende Ressourcen, Ideen, Kreativität und Budget bereit. Und sie geschieht auf Augenhöhe. Souverän. Nicht selten selbstironisch.
  3. Inszenierung & Immersion
    Inszenierung ist nicht Teil des Konzepts, Marken-Inszenierung IST das Konzept dieser Geschäfte, Welten, Cafés und Orte. Diese Orte sind geschaffen dafür, dass der Kunde die Marke inhaliert, in die Markenwelt eintauchen kann, mit der Marke interagiert, die Werte, die Produkte fühlt und sich mit ihnen identifiziert.
  4. In Frage gestellt & neu gedacht
    Nichts ist selbstverständlich oder 0815 an diesen Projekten, nicht die Ladenöffnungszeiten, nicht der Ort, nicht die Rollenverteilung Kunde-Verkäufer, nicht der Grundriss, nicht die Waren selbst. Jedes Element wurde in Frage gestellt und auf dem Grat zwischen Kundenbedürfnis und der Markenbotschaft angesiedelt. Mit Liebe!
  5. Ein weiterer Verkaufskanal & Präsenz
    Natürlich geht es auch darum, zu verkaufen, das Produkt an den Mann und die Frau zu bringen, aber entweder ist es NUR ein weiterer Verkaufskanal oder nichteinmal das. Es ist das Extra, nicht die Basis. Es ist eine Präsenzform, die einen Kontakt, eine Intimität mit der Marke, ihren Werten und Produkten möglich macht, die es vorher nicht gab. Es ist ein Geschenk, ein unerwartetes ebenso wie unberechenbares: Was haben Sie sich dieses Mal ausgedacht?
  6. Thick Data & Rollenverständnis
    Die Entscheidung zu einem Ladengeschäft entspringt nicht der Not sondern der Lust auf Kundenkontakt, auf Inszenierung, aber auch darauf, etwas zu lernen: über sich, die Kundenbedürfnisse und über die Resonanzräume der eigenen Marke. Das veränderte Rollenverständnis bemerkt auch der Kunde, spätestens beim Betreten des Ladens! Umgekehrt sind die Möglichkeiten, die Kundensicht auf Marke und Produkt zu erfahren, in solch einem Setting natürlich enorm, ermöglichen die thick data, um die digital gesammelte big data interpretieren und anwenden zu können.
  7. Experimente & Design Thinking
    Die Projekte sind zumeist und zumindest erst einmal als Experimente angelegt. Stichwort: Klein anfangen,  nicht selten als Pop Up, Resonanz erspüren, Feedback aufnehmen und dann erst größer ausrollen und im besten Fall sogar mit den Fans und Kunden weiterentwickeln. Das gilt sowohl für die Einzelprojekte, als auch für den nationalen oder internationalen Roll Out des Konzepts.
  8. Marken Erlebnis & Emotionen
    Da das Marken-Erlebnis und nicht der Verkauf im Zentrum der Aktivitäten steht, liegt das Augenmerk auf einer alle Sinne ansprechenden, emotionalen Ausgestaltung der Projekte: überraschend, berührend, humorvoll, nachhaltig, ergreifend und vor allem physisch erfahrbar. Der Besuchende wird als Gast empfangen und unterhalten, nicht als Kunde. Ihm wird Zeit, Energie und Interesse entgegengebracht – die wie wir spätestens seit Brené Brown wissen, uns das Gefühl des Verbundenseins geben und das menschliche Urbedürfnis stillen, gehört und gesehen zu werden.
  9. Menschliche & physische Präsenz
    Einen physischen Ort zu schaffen, an dem der Fan / Kunde / Gast die Produkte sinnlich erleben kann, an dem er mit dem Unternehmen direkt interagieren und zwar auf Augenhöhe und von Mensch zu Mensch, erhält in digitalen Zeiten wie heute eine neue Wertigkeit. Das Bedürfnis danach ist deutlich spürbar. Die Kunst besteht darin, das Bedürfnis aufzugreifen und in Orts-Konzepte umzusetzen, die diese Begegnung nicht nur ermöglichen, sondern fördern und Gestaltungsräume öffnen für Kommunikation, Interaktion und ko-kreative Prozesse.
  10. Die Sehnsucht des Kunden & Prozessvertrauen
    Und damit sind wir beim letzten Punkt: Prozessvertrauen & Transparenz, denn diese sind nötig bei solchen Projekten, die nicht am Reißbrett entstehen, sondern im Gehen. Die ein Loslaufen erfordern ohne Landkarte, dafür mit einer gut gefüllten Tüte Intuition und der Sehnsucht nach der Eroberung noch nicht betretener Pfade. Und im besten Fall Gefährten wie uns, die Ihnen mit Kompetenz, Netzwerk und Erfahrung beiseite stehen 🙂

Welches sind die bislang überraschendsten Projekte, die wichtigsten Ansätze und erfolgreichsten Strategien? Unsere Top 10:

        1. Vogue Cafés jetzt auch in Berlin und Porto
          Nach dem erfolgreichen Pop Up Café in London 2016 plant Vogue für Sommer 2017 die Eröffnung zweier Vogue Cafés in Porto und in Berlin Grunewald. zusätzlich zu den bestehenden in Kiev, Dubai and Moskau und den Vogue Lounges in Bangkok und bald in Kuala Lumpur and Doha.
        2. Pantone Cafe in Monaco
          Zum zweiten Mal öffnete Pantone 2016 in Monaco sein Pantone Cafe und bot seinen Gäste den Geschmack von Farben in Form von Mahlzeiten und Drinks. Keine Frage, dass das Café auch optisch viel hermachte!
        3. Tiger Beer: Made in Asia!
          Als erfolgreichste Biermarke Asiens, eröffnete Tiger Beer in New York einen Pop Up Store aus Containern gebaut, gefüllt mit der geballten Kreativität made in Asia! Einlass gab es mit einem Tiger Beer Bierdeckel aus einer der umliegenden Bars.
        4. Otto Bock: Open Innovation
          Der Medizintechnikhersteller Otto Bock geht einen anderen Weg. Zusätzlich zum Otto Bock Science Center initiierte Otto Bock den Open Innovation Space Berlin in der ehemaligen Bötzow Brauerei. Betrieben vom Fab Lab Berlin ermöglicht dieser Privatpersonen, StartUps und Unternehmen Open Research und Open Education und eine marktnahe Infrastruktur für Unternehmungen, Services und Forschungen bereit.
        5. #erbenroof – die temporäre Rooftop Winebar 
          Die Traditionsmarke Langguth Erben verlegte  2016 die Mosel nach Berlin-Neukölln für zwei Monate und eroberte die Hipsterherzen im  Sturm!
        6. Mc Donalds Loft @ SXSW 2016
          Ganz vorne im Bereich der Nutzung neuer Technologien wie Virtual Reality kickt übrigens nach Meinung vieler, insbesondere US-amerkanischer Marketingtred-Experten McDonalds, die bei der diesjährigen Trend-Konferenz SXSW in Austin mit ihrem Marken-Experimentier Loft andere Marken blass aussehen ließen.
        7. BMW: Brand Experience Center in Zürich
          Das 2016 eröffnete BMW Brand Experience Center ist auf vielleicht am Deutlichsten auf Vertrieb ausgelegt. Im Zentrum bildet eine modern und grosszügig gestaltete Hospitality Lounge den Rahmen für geballtes Beratungs-Know how und einen entspannten Austausch über die mögliche Konfiguration des vom Kunden favorisierten Modells, ergänzt um Produktpräsentation, Probefahrten und Events.
        8. Der Klassiker: Heineken Experience
          Wir sind nicht das Heineken Museum, wir sind die Heineken Experience” – sagt die Firmenwebsite. Auch wenn sie bereits etwas in die Jahre gekommen ist, sie darf in dieser Liste nicht fehlen: die Heineken Experience in Amsterdam: Ein schwungvoller Rundgang durch die Firmengeschichte am traditionellen Ort, bietet Heineken seinen Fans die Möglichkeit, tief in die hopfenhaltige Markenwelt einzutauchen.
        9. Karls Erdbeer Hof und Zotter
          Im Lebensmittelbereich sind im deutschsprachigen Raum zwei weitere Marken vorne mit dabei, wenn es darum geht, einen Ort zu schaffen, an dem Fans in die Markenwelt abtauchen können: Zotter und Karls Erdbeerhof. Karls Ländliche Erlebnisparks sind mittlerweile ganzjährige Ausflugsziele für Familien mit Kind und Hund, das ursprüngliche Thema Erdbeere wurde ausgedehnt auf ländliche Produkte. Bei der Zotter Manufaktur in Österreich hingegen geht es weiterhin um die Schokolade, deren Produktionsprozess und ihre Verkostung in allen Produktionsstufen, non-lineares Storytelling, Transparenz und Backstage Feeling inbegriffen.
        10. First Mover: Bonobos Guideshop
          “Bonobos opens stores that don’t sell anything” titelte USA Daily damals zur Eröffnung. Das service-fokussierte E-Commerce-Unternehmen für Herrenmode. Das  Unternehmen wagte bereits 2013 den Schritt an den Point-of-Sale, oder besser: Point-of-Service: In sogenannten Guideshops beraten engagierte Mitarbeitern zur aktuellen Kollektion und zwar 45 Minuten lang. Geliefert wird a casa, eh klar!

Welche Stores, Experiences, Projekte konnten Sie begeistern?
Wann gehen Sie “offline”?
Und wann eröffnet Facebook eigentlich Cafés mit VR-Timelines?
Wir sind gespannt auf Ihre Eindrücke und freuen uns auf Austausch!

Für alle, die mehr wissen möchten unsere Literaturempfehlungen zum Thema:

(1) Uwe Munzinger/Christiane Wenhart: Marken erleben im Digitalen Zeitalter
(2) Melissa Gonzalez: Pop Paradigm Connections – How Brands Build Human Connections in a Digital Age 
(3) Konsum-Marketing.de: Digitale Transformation Rückwärts
(4) Zukunftsinstitut: Eine neue Beziehungsqualität 

PS: Den umgekehrten Trend, digitale Elemente wie VR in Ladengeschäfte zu integrieren gibt es natürlich auch. Aber dazu bald mehr an dieser Stelle.

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